Was ist Achtsamkeit?
geschrieben von: Oliver Spiller
Diese Frage muss zunächst sprachlich näher untersucht werden, denn Achtsamkeit ist kein Gegenstand den der Mensch im Außen betrachten kann. Achtsamkeit kann zwar durch die sprachliche Objekt-Subjekt-Relation distanziert betrachten werden, wirklich wissen was Achtsamkeit ist kann der Mensch aber nur, wenn er Achtsamkeit praktiziert, d.h. wenn er Achtsamkeit übt. Hier trennt sich das Sein vom Haben, denn Achtsamkeit kann man nicht haben, jedoch kann man achtsam sein.
Stelle dir nun vor du spielst jeden Tag mehrere Stunden Fußball. Worin wirst du besonders gut werden? Richtig, in Fußball. Stelle dir nun vor, du verbringst jeden Tag mehrere Stunden mit Mathematik. Worin wirst du gut werden? Richtig, in Mathematik. Stelle dir nun vor, du spielst jeden Tag für mehrere Stunden ein Instrument. Worin wirst du gut werden? Richtig, darin, das Instrument zu spielen. Und stelle dir nun vor, dein Gehirn verbringt den ganzen Tag, jeden Tag, sogar im Schlaf, damit unbewusste Gedanken, die im Hintergrund deine Handlungen und Wahrnehmungen kommentieren, die darauf ausgerichtet sind automatisch, im Autopilot des Alltags, deine in diesem Moment unbewussten Ängste und Stressoren zu berücksichtigen, zu denken. Zusätzlich befindet sich dein Geist und dein Körper täglich in stressigen Situationen, läuft also unter dem Überlebensprogramm von Fight or Flight und zusätzlich beschäftigst du dich meist den ganzen Tag damit Dinge im Außen, die nicht deine eigenen gegenwärtigen Körpersignale, Gefühle, Emotionen und Gedanken und Bedürfnisse sind. Wir spreche hier vom Leben im Autopiloten. Worin wirst du gut werden?
Was passiert beim Leben im Autopiloten?
Wie wenn in einem Glas Wasser in dem Erde ist das Wasser beim Aufrühren der Erde trübe und unklar wird, wird auch der menschliche Geist im Modus des alltäglichen Autopiloten trübe und unklar. Daraus resultiert Stress, die Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse und der Bedürfnisse der Mitmenschen, nicht heilvolle mentale Muster, nicht heilvolle Handlungs- und Verhaltensweisen, Beziehungsprobleme, etc.
Wenn wir Achtsamkeit üben geschieht mit unserem Geist das, was mit dem Wasser im Glas geschieht. Die Gefühle, Gedanken, das Bewusstsein beruhigen sich, der Geist wird wieder klar. Im Alltag ist der Geist unruhig und unklar. Viele Emotionen, Gedanken, Wünsche, Erfahrungen, Erwartungen, Ideen und Konzepte, Wut, Ärger usw. sind im Körper und im Geist vorhanden. Durch z.B. achtsames Atmen beruhiget sich der Geist, kann sich klären und sich für sich selbst, seine Mitmenschen und tiefere Einsichten öffnen. Dabei ist es in der heutigen Zeit sehr hilfreich sich zuerst zu entspannen, Stress und Ärger gezielt abzubauen.
„Werde wieder wie ein staunendes Kind, das die Welt entdeckt. Jeden Augenblick neu.“
(Tibetisches Sprichwort)
Buddha Shakyamuni betrachtete die Achtsamkeit auf den Atem als die grundlegendste Form von Achtsamkeit. Die Praxis der Achtsamkeit wurde in der yogischen und buddhistischen Psychologie und Philosophie über 2500 Jahre erforscht, erprobt und verfeinert. Ansätze von Themen die Achtsamkeit betreffen finden sich zwar auch in der europäischen Philosophiegeschichte, diese bleibt jedoch im theoretischen Stecken. Es gibt hier keine Achtsamkeitspraxis. Im buddhistisch beeinflussten asiatischen Bereich hingegen hat sich eine über 2500 Jahre andauernde Achtsamkeitspraxis entwickelt. Hier hat sich ein wissenschaftliches System entwickelt, das nicht explizit nach außen gerichtet ist, sondern nach innen.
Im Westen wurde Achtsamkeit im 20 Jhdt., besonders in der zweiten Hälfte, entdeckt. Vor allem im Gesundheitsbereich ist Achtsamkeit in Form des von Jon Kabat-Zinn in den späten 70er Jahren entwickelten MBSR (Mindful Based Stress Reduction) und den davon abgeleiteten psychotherapeutischen (z.B. MBCT) und pädagogischen Programmen (z.B. A Still Quiet Place, Mind Up, Achtsamkeit in der Schule) international verbreitet und wissenschaftlich anerkannt. In dieser Form ist Achtsamkeitspraxis säkularisiert.
In den letzten zehn bis zwanzig Jahren hat der Begriff der Achtsamkeit in der Psychotherapie, in spezifischen Therapiefoemen wie auch in der Klienten-Therapeuten Beziehung an Bedeutung gewonnen. Ansätze von Achtsamkeitspraxis finden sich auch im Mentaltraining, wobei die buddhistische Psychologie hier weit über westlche Modelle hinaus geht und noch unzählige unerschlossene Ressourcen bereit hält. Besonders der ressourcenorientierte Ansatz ist es, der Achtsamkeitspraxis mit der Positiven Psychologie verbindet.
Aber auch in der psychologischen empirischen Grundlagenforschung wurde Achtsamkeit als Forschungsobjekt entdeckt. Hier werden seit gut zwei Jahrzehnten vermehrt die Auswirkungen von Achtsamkeitspraxis und Meditationspraxis auf das menschliche Gehirn erforscht. Themen wie die Wirkung von Achtsamkeitspraxis auf die menschliche physische und psychische Gesundheit, das persönliche Wohlbefinden, soziale Prozesse und neurophysiologische Funktionen stehen hier im Mittelpunkt.
Neben dem psychologischen und gesundheitlichen Bereich liegt ein weiterer Aspekt von Achtsamkeit in der Ethik. Hier liefern zunächst empirisch-psychologische Forschungen Ergebnisse, die westlich geprägten Menschen erklären, wie und warum sich Achtsamkeitspraxis auf das ethische Verhalten von Menschen auswirkt. Die wichtigsten beobachtbaren Effekte, mit Bezug auf die ethische Praxis, von Achtsamkeitspraxis sind die Zunahme der Empathiefähigkeit und der affektiven Reaktanz aufgrund der stärkeren Vernetzung des Gehirns, der Zunahme der Spiegelneuronen und der Erweiterung und Verdichtung des PFC (Präfrontalen Cortex).
„Alles, was wir für uns selbst tun, tun wir auch für andere, und alles,
was wir für andere tun, tun wir auch für uns selbst.“
(Thich Nhat Hanh)
Im Westen wird der breit wahrgenommene Achtsamkeitsbegriff gegenwärtig vor allem durch seine psychologische Komponente geprägt, wobei hier die Elemente der Aufmerksamkeit und der Wahrnehmung im Vordergrund stehen. Psychologische Studien zielen vermehrt auf diese Faktoren, einige jüngste Studien auch auf den Bereich der Empathie. Dies ist sehr wertvoll, entspricht aber nur einem Teil dessen was Achtsamkeit ist. Achtsamkeit ist, neben den salutogenetisch-gesundheitsförderlichen Komponenten, eine Haltung verkörperter Ethik. Hier finden sich einige Ansatzpunkte in der westlichen philosophischen Ethik.
Die in der Achtsamkeitspraxis geübte Wahrnehmung der bewussten Erfahrung von Moment zu Moment erfordert die Pflege von Geisteshaltungen, oder Tugenden, wie Freundlichkeit, Toleranz, Geduld, Großzügigkeit, Mitgefühl und Mut. Ohne diese Geistesschulung beschränkt sich Achtsamkeitspraxis auf Kontemplation. Oft wissen wir aber nicht wie wir diese tugendhaften Eigenschaften und die damit verbundenen ethischen Verhaltensweisen kultivieren und pflegen können, auch wenn wir bestrebt sind dies zu tun. In der buddhistischen Praxis gibt es Empfehlungen wie diese Verhaltensweisen gefördert werden können, z.B. mittels Liebende Güte und Mitgefühlsmeditation (Metta). Wir können Achtsamkeitspraxis als Einladung verstehen diese Fähigkeiten zu pflegen. Wir können zu jedem Zeitpunkt beobachten, wie unser Gewahrsein durch den Versuch der unmittelbaren Erfahrung mit Freundlichkeit, Offenheit und Geduld zu begegnen, beeinflusst wird. Ganz unabhängig davon, ob die gegenwärtige Erfahrung angenehm, unangenehm oder neutral ist. Ziel ist nicht die Verdrängung von unangenehmen Gefühlen, Emotionen oder Gedanken und auch nicht das Streben zu angemehmen oder zumindest neutralen. In dieser Praxis sollte es auch keine Pflicht oder Erwartung eines Erfolgs geben sondern lediglich die freundliche Einladung an sich selbst es zu versuchen. Die Grundlage von Freundschaft ist eine nicht wertende, wohlwollende, liebevolle und wertschätzende Haltung dem Freund/der Freundin gegenüber. Wer diese innere Haltung täglich in jedem Moment achtsam sich selbst gegenüber übt, stärke den inneren Dialog mit sich selbst und nährt seine Selbstliebe und seinen Selbstwert. Erst aus dieser grundlegenden Erfahrung heraus kann diese innere Haltung den Mitwesen gegenüber entwickeln und im Alltag im Denken und im Handeln verwirklicht werden. Die Freundschaft, das Mitgefühl sich selbst gegenüber ist also eine grundlegende Basis um diese Haltung in der Mitwelt und für alle Mitwesen zu verwirklichen und zum Ausdruck zu bringen. Dies ist keine Aufforderung alles zuzulassen und der Mitwelt urteilslos gegenüber zu stehen. Unsere Urteile und Bewertungen sind aber eine natürliche Konzequenz der aus der Übung erwachsenden ethischen Haltung die das Handeln leitet und motiviert. Persönliche Urteile und Bewertungen entstehen in Achtsamkeit aus einer weniger vorurteilsbehafteten und weniger voreingenommenen, jedoch wohlwollenden Perspektive.
„Denke immer daran, dass es nur eine wichtige Zeit gibt: Heute. Hier. Jetzt.“
(Leo Tolstoi)
Wie kann ich Achtsamkeit im Alltag verankern?
Ganz einfach durch das Üben von Achtsamkeit. Achtsamkeit kann immer und überall geübt werden. Im Auto, an der Supermarktkassa, im Gespräch mit einem Kollegen, dem Partner, meinem Kind, meinen Eltern, dem Chef, beim Kochen, beim Essen, beim Einkaufen, beim Spazieren gehen, beim Warten auf die Straßenbahn, beim alleine sein, auf einer Party, beim Türen durchschreiten, beim Sport, beim Zähneputzen, beim Kloputzen, beim Aufwachen, beim Schlafen gehen,… immer und überall. Wichtig ist es beim Üben kreativ zu sein, immer wieder neue Übungen auszuprobieren, Freude daran zu haben, die Achtsamkeit zu vertiefen und den Anfängergeist zu bewahren. Je mehr wir üben umso leichter gelingt es uns Achtsam zu sein und je schwieriger die Situation in der wir achtsam handeln umso fortgeschrittener ist persönliche Meisterschaft. Je öfter Entspannungstechniken und Achtsamkeitspraxis geübt warden umso stärker sind sie im Körpergedächtnis verankert und können daher auch in persönlich als belastend empfundenen Situationen leichter abgerufen werden.
Was habe ich von geübter Achtsamkeitspraxis?
Kurz gesagt, mehr Lebensqualität und Wohlbefinden. Mögliche Effekte von Achtsamkeitspraxis sind eine verbesserte physische und psychische Gesundheit, bessere Beziehungen (zu sich selbst und zu andern Menschen), mehr Freude im Alltag, mehr Selbstbestimmung, verbesserte Selbstwahrnehmung, weniger Stress, mehr innere Ruhe, ein liebevoller Umgeng mit sich und den Mitmenschen, man ist kreativer, man ist nicht mehr der Sklave seiner Gedanken und Emotionen, etc. Achtsamkeit ist eine einfache Praxis die immer und überall zum eigenen Whole und zum Wohle der Mitwelt eingesetzt werden kann.
Mögen alle Wesen frei und glücklich sein.
Über den Autoren
Kunsthistoriker, Kulturwissenschafter, Lehramt für Bildnerische Erziehung, Philosophie und Psychologie, Diplomierter Entspannungs- und Achtsamkeitstrainer, Trainer in der Erwachsenenbildung. Fortbildungen in Gewaltfreie Kommunikation, Mentaltraining und Elementare Musikpädagogik. Gegenwärtig Vertiefung in Achtsamkeit in der östlichen und westlichen Philosophie, sowie in westliche und buddhistische Ethik. |